Mural de mujeres bolivianas, La Paz; foto: Gabriela Keseberg D.

In Bolivien wächst eine ganze Generation ohne Eltern auf

Von Gabriela Keseberg Dávalos, Bolivien

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600.000 Bolivianer sind in den letzten fünf Jahren wegen der schlechten Konjunktur im Lande ausgewandert. Die wenigsten konnten ihre Kinder mitnehmen. Diese wachsen meist unter der Obhut von Verwandten auf, oft auch alleine. Eine Entwicklung, die ebenfalls in Kolumbien und Ekuador beobachtet wird.

Der Verlust ist größer als der Gewinn

Die meisten Bolivianer wandern ohne Aufenthaltserlaubnis aus, arbeiten in der Illegalität. Sieben Tage die Woche. Weil währenddessen niemand auf ihre Kinder aufpassen kann, lassen sie diese im Heimatland zurück.

Raquel (20) hat ihre Mutter seit ihrem elften Lebensjahr nicht mehr gesehen. In den neun Jahren Abwesenheit hat diese genügend Geld aus den USA geschickt, damit die Töchter ein eigenes Haus bauen können. „Das kann aber ihre Nähe und ihre Wärme nicht ersetzen“, sagt Raquel traurig. Doch sie hat ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater und eine ältere Schwester, die die Rolle der Mutter antrat. Bei älteren Geschwistern ein typisches Verhalten. Der Preis ist hoch. Sie übernehmen zu früh zu große Verantwortung, verlieren ihre Kindheit. In Fällen wo beide Elternteile weg sind, verlassen die älteren Kinder oft sogar die Schule. Nur so können sie sich ausreichend um die Jüngeren kümmern. Diejenigen, die in der Heimat bleiben, müssen sich an ein neues Leben gewöhnen.

Alles ändert sich

So auch Rossana (16) und Tomás (12), deren Eltern nach Spanien zogen. „Es änderte sich alles. Wir mussten in ein kleines Zimmer ziehen, wo wir zu viert wohnten. Ich, mein Bruder, meine Tante und meine Oma“, erzählt Rossana. Tomás, gerade erst sechs Jahre alt, als die Eltern gingen, litt am meisten. Noch heute steigen ihm Tränen in die Augen, wenn er von der Trennung erzählt. Die Mutter verließ sie, ohne Bescheid zu sagen. „Ich war wütend auf meine Mutter und enttäuscht“, sagt er. Das Verhalten von Rossanas und Tomás’ Mutter wird bei Auswanderern oft beobachtet. Die Eltern denken, sie sparen ihren Kleinen Kummer, wenn sie ohne Erklärung verschwinden.

Schulkinder in Bolivien

Der Psychologe Wilge Arandia von AMIBE (Asociación de Migrantes España Bolivia – Vereinigung der Migranten Spanien Bolivien), stellte bei Kindern von Aussiedlern Folgendes fest: „Diese Kinder sind oft introvertiert, schüchtern und depressiv. Die ersten Anzeichen von Problemen zeigen sich in der Schule anhand der Noten.“

Die Kinder fühlen sich schuldig

Bisher kümmern sich lediglich Stiftungen und private Organisationen um die Verwandten von Auswanderern. Der Staat hat das wachsende Problem noch nicht erkannt. „Es fehlen Gesetze, die diese Kinder schützen“, sagt die Grundschullehrerin Sandra Santiago aus La Paz. Sie hat tagtäglich mit Kindern von Emigranten zu tun.

Ihre Erfahrung ist erschütternd. „Die Kleinen werfen sich vor, überhaupt zu existieren. Sie denken: ‚ wenn es mich nicht gäbe, hätten meine Eltern keine Geldprobleme und sie hätten nicht gehen müssen’ “, berichtet sie. Wünsche nach Spielzeugen findet man in den Briefen, die ihre 2. Klasse an den Weihnachtsmann geschrieben hat, kaum. Stattdessen häufen sich Sätze wie: „Bring mir Papa bitte zurück“ und „Ich möchte meine Mama wieder sehen!“.

Geld vs. Familie

In ihrer Studie „Die menschlichen Kosten der Emigration“ weist die bolivianische Soziologin Celia Ferrufino darauf hin, dass gegenwärtig eine Generation mit veränderten, neuen Werten aufwächst. „Das Finanzielle steht vor Werten wie Liebe, Familie oder Respekt“, erklärt sie. Das monatliche Taschengeld, das die Eltern aus der Ferne schicken, ist am Ende die einzige Verbindung zwischen ihnen und den Kindern.

Wenn nur ein Elternteil auswandert besteht zudem die Gefahr, dass die Familie nach einiger Zeit komplett auseinander bricht. Wegen der großen Entfernung und Entwöhnung, suchen sich viele im neuen Land auch einen neuen Partner. Gründen sogar eine neue Familie. Dieser Umstand, gepaart mit strengen Einwanderungsgesetzen, verringert die Chance einer Familienwiedervereinigung.

„Habt Vertrauen!“

Rossana und Tomás hatten Glück. Ihre Eltern konnten bereits nach zwei Jahren ihre Schulden bezahlen und kehrten heim nach La Paz. „Seitdem machen wir alles zusammen, treffen alle Entscheidungen gemeinsam“, erzählt die ältere Schwester. „Wir wollen uns nie wieder trennen“, sagt sie entschlossen. Den Kindern, die nach wie vor auf ihre Eltern warten, sprechen die Geschwister Mut zu: „Habt Vertrauen! Wenn eure Eltern versprochen haben, zurückzukehren, dann werden sie es tun. Es gibt keine Eltern, die ohne ihre Kinder leben können.“ Und auch Raquel ist sich sicher: „Meine Mutter kommt zurück!“


Weitere Informationen:

  • Bolivien hat gegenwärtig 10 Mio. Einwohner. Schätzungsweise 3 Mio. wohnen im Ausland. In den letzten fünf Jahren wanderten 600.000 Menschen aus. Das entspricht der Bevölkerung der drittgrößten Stadt in Bolivien (Cochabamba). 80% der Bolivianer, die auswandern, gaben an, dies aus finanzieller Not zu tun. Die Hälfte der Auswanderer sind Frauen im Alter von 25-45 Jahre. Davon sind über zwei Drittel verheiratet. Frauen haben im Ausland eher eine Chance, einen Job zu finden: als Kindermädchen, Altenpflegerin oder Hausgehilfe. Die Männer hingegen arbeiten vor allem in der Baubranche. Wegen der Krise in Spanien und in den USA sind viele jetzt auch dort arbeitslos.
  • Der Großteil der Verwandten, die in Bolivien zurück bleiben, sind Minderjährige. Die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung ist jünger als 22 Jahre.
  • Fast 700 Mio. Euro schickten die Auswanderer nach Bolivien im Jahr 2007. Die Summe übertraf die ausländischen Investitionen, ca. 230 Mio. Euro, in Bolivien im gleichen Jahr um ein Dreifaches. Das meiste Geld schicken die Bolivianer, die in Spanien arbeiten. Von denen in Spanien haben ca. 70% keine Aufenthaltserlaubnis.
  • 2008 schickten die Bolivianer in Spanien einen Wert entsprechend 10% des bolivianischen Bruttoinlandsproduktes.

Als häufigste Gründe zum Auswandern wurden genannt:

  • die schlechte Konjunktur
  • fehlende Arbeitsmöglichkeiten
  • Schulden
  • und: der Wunsch nach einem besseren Leben

Folgende Symptome wurden bei Kindern von Auswanderern beobachtet:

Depression
Isolation
Bindungsangst
Rebellion
Rückgang der Schulleistung
Fehlendes Selbstbewusstsein und Vertrauen in Erwachsene
Gefühle von Einsamkeit, Verlassenheit und Ablehnung

Veröffentlicht auf heute.de, 11.12.2008

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