Letermes Regierung nach nur drei Monaten vor dem Aus?

Der Streit zwischen den großen Sprachgruppen, den Flamen und den Wallonen, geht in die nächste Runde. Im Laufe des heutigen Tages wird Ministerpräsident Yves Leterme eine Erklärung abgeben, die sich vor allem mit zwei umstrittenen Themen befasst: die Grundzüge für eine neue Staatsreform und damit einhergehend,  eine Lösung für das Problem des  Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde.Kommt die Regierung zu keinem Ergebnis, droht eine Spaltung des Landes.

Die Arbeit des Ministerpräsidenten Letermes gleicht der Arbeit des Sisyphos. Immer wenn dieser den Felsblock schon fast zur Spitze des Berges hinaufgerollt hat, entgleitet der Stein wieder und die Arbeit geht von vorne los.

So geht es Yves Leterme seit seinem Wahlsieg im Juni 2007.  Bis März dieses Jahres war der Christdemokrat mehrfach beim Versuch, eine Koalition zu bilden, gescheitert. Hauptgrund dafür waren die Rivalitäten zwischen Politikern aus dem niederländisch sprechenden Norden (Flandern) und dem französisch sprechenden Süden (Wallonien). Seit der Gründung Belgiens infolge der Revolution 1830 und der Loslösung von den Niederlanden ist das Land sowohl sprachlich, als auch kulturell geteilt. Dieser Sprachen- und Kulturenstreit war es auch, der nach der Wahl im vergangenen Jahr die längste Regierungsbildung in der Geschichte des Landes auslöste.  Gleichzeitig warf die Krise erneut die Frage einer möglichen Spaltung Belgiens auf. Vor allem die reicheren Flamen streben mehr regionale Autonomie und mehr Kompetenzen für die Regionen an. Etwa bei der Sozialgesetzgebung und bei der Unternehmensbesteuerung. Dies lehnen die frankophonen Parteien jedoch entschieden ab, da sie insbesondere finanzielle Verluste für ihre Region befürchten.

Eine Koalition aus fünf Parteien

Nach neun Monaten Streit gelang Leterme im März endlich der Durchbruch. Es entstand eine Regierung in Form einer Fünf-Parteien-Koalition. Diese besteht aus den flämischen und wallonischen Christdemokraten (CD&V und cdH) und Liberalen (VLD und MR), sowie den frankophonen Sozialisten (PS).

Doch der Erfolg währte nur kurz. Nur drei Monate später steht der Regierungschef  vor einem Scherbenhaufen. Zentrum des Konfliktes bildet der umstrittene Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (häufig als BHV abgekürzt). Hier ringen Niederländisch und Französisch sprechende Politiker um Einfluss, denn nur in diesem Wahlkreis, der Brüssel und Umgebung einschließt, treten bei Wahlen Parteien sowohl der Flamen als auch der Wallonen an. Ein Phänomen der belgischen Parteienlandschaft, welches von jeder Partei zwei eigenständige Flügel hat: einen flämischen und einen wallonischen. Eine gesamtbelgische Partei existiert nicht. Die Schwesterparteien kooperieren wenig bis gar nicht miteinander. Und auch jetzt beraten die französischsprachigen und flämischen Politiker getrennt.

Wahlkreis mit Besonderheiten

Unter den elf Wahlkreisen zur belgischen Abgeordnetenkammer und zum Europaparlament ist BHV der Einzige, der sich über das Gebiet mehrerer Regionen erstreckt. Der Wahlkreis umfasst sowohl die Region Brüssel-Hauptstadt, als auch das angrenzende Arrondissement Halle-Vilvoorde, welches Teil der Provinz Flämisch-Brabant ist. Alle anderen zehn Wahlkreise bestehen hingegen aus lediglich einer Provinz. Hier kann der Wähler nur zwischen Parteien einer Sprachgruppe wählen, also entweder der niederländischen oder der französischen. Die Existenz eines zweisprachigen Wahlkreises ist somit ein wichtiger Streitpunkt im flämisch-wallonischen Konflikt.

Die flämischen Parteien fordern die Teilung von BHV entlang der Regionalgrenzen. Das würde jedoch für die französischsprachigen Bürger der flämischen Gemeinden bedeuten, dass sie keine frankophonen Parteien wählen könnten. Letztere lehnen den Vorschlag deswegen einhellig ab. Eine Umgestaltung der Wahlkreiseinteilung ist aber ohne das Einverständnis beider Sprachgruppen im belgischen Parlament nicht durchzuführen. Aus diesem Grund wird nun versucht, das Problem im Rahmen eines erweiterten Kompromisses über eine Staatsreform zu lösen.

Doch nicht nur die Politiker sehen eine Einigung in weiter Ferne. Ein Blick in die belgische Presse verrät: das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung Leterme ist gering, der Pessimismus hingegen groß. Umfragen zufolge glaubt mehr als die Hälfte der Belgier nicht an einen Erfolg eines Kabinetts unter Premierminister Leterme.

“Es ist die Woche der Wahrheit” 

Dieser bleibt indes unerschütterlich optimistisch. Leterme ist überzeugt, dass er heute ein Abkommen über die weitere Staatsreform wird vorstellen können. Man habe in Sachen Staatsreform und Brüssel-Halle-Vilvoorde Fortschritte gemacht, erklärte der Premier letzte Woche nach der Vorstandssitzung der CD&V, der flämischen christdemokratischen Partei. Ein Scheitern der Verhandlungen werde es nicht geben, so Leterme.

Bis tief in die Nacht gingen in den letzten Tagen die Verhandlungen und Beratungen zwischen dem Regierungschef, den Vize-Premiers und den Vorsitzenden der Mehrheitsparteien. Sollte keine Lösung gefunden werden, droht die nach schwierigen Verhandlungen zustande gebrachte Koalition auseinander zu brechen. Die nächsten Tage könnten für Belgien schicksalhaft sein.

Von Gabriela Keseberg Dávalos, heute.de, 17,7.2008

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