JA oder NEIN? Volksabstimmung in Bolivien

foto by Gabriela Keseberg Dávalos

Eine Volksabstimmung in Bolivien entscheidet über die Zukunft von Präsident Morales

Heute stimmen die Bolivianer ab, ob ihr Präsident, Evo Morales, und sein Vize-Präsident Álvaro García Linera, vorzeitig aus dem Amt scheiden. Auch acht Gouverneure (prefectos) sollen bestätigt oder ihres Amtes enthoben werden. Dem Referendum  geht eine Woche von heftigen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und der Regierung voraus. Bolivien driftet immer weiter in die Krise. Ein Ende der Konflikte ist nicht in Sicht.

Verfassungswidriges Referendum

Tapfer und ganz alleine kämpft in diesen Tagen die letzte noch verbliebene Verfassungsrichterin,  Silvia Salame. Das Verfassungsgericht selbst ist gelähmt, seit  die anderen vier Richter auf Druck der Regierung Morales kündigten. Gerichtsbeschlüsse sind deswegen nicht möglich. Richterin Salame wurde vom Kabinett nun angezeigt, weil sie der Klage eines Abgeordneten der Opposition Recht gab. Er klagte, weil das Referendum verfassungswidrig ist. Salame wollte es bis zu einer erneuten Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichts stoppen. Dessen ungeachtet führten sowohl die Politiker der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo), als auch die der Opposition ihre Wahlkämpfe weiter.

Obwohl die Bolivianische Verfassung keine Volksentscheide erlaubt, ist das Land in den letzten sechs Jahren von solchen Referenden regelrecht überflutet worden. Einerseits sind sie ein Mittel, um die Konflikte demokratisch zu lösen, gleichzeitig bewegen sie sich in der Illegalität. Ihre Anwendung zeigt, wie ungeschützt die Verfassung in Bolivien ist und wie willkürlich sie verwendet wird. Um dem Referendum am 10. August eine Scheinlegalität zu verleihen, verabschiedete das Parlament erst kürzlich ein Gesetz, dass Volksabstimmungen erlaubt. Dies ändert jedoch nicht, dass solche politischen Instrumente mit der Verfassung nicht vereinbar sind.

Ironischerweise hatte die Regierung selbst vor wenigen Monaten exakt den gleichen Vorwurf gemacht, wie jetzt das Verfassungsgericht. Sie kritisierten, dass mehrere Regionen Boliviens in Referenden positiv über ihre Autonomie entschieden. Damals bezeichnete Präsidentschaftsminister Juan Ramón Quintana den Vorstoß der fünf Gouverneure als „Schlag gegen die Verfassung und die Demokratie“ sowie als „Aufforderung zur Spaltung des Landes“. Die Regierung bezichtigte die Autonomie-Referenden als illegal und verfassungswidrig. Doch vor wenigen Wochen überraschte Präsident Morales die Öffentlichkeit mit der Aussage: „Ich habe gelernt, dass das Politische über dem Legalen steht. Wenn mir ein Jurist sagt ‚das was du machst, ist illegal’, dann sage ich ‚dann legalisier es, dafür hast du schließlich studiert!’“

Die Regeln des Spiels

Der Wahlzettel besteht aus zwei Fragen, die mit JA oder NEIN beantwortet werden können. Die erste Frage lautet: „Sind Sie mit der Weiterführung der Veränderungen, die Evo Morales und Álvaro García Linera eingeführt haben, einverstanden?“ Die zweite lautet: „Sind Sie mit der Weiterführung der Politik des Gouverneurs Ihrer Region einverstanden?“

Die Regelung zur Amtsenthebung ist verworren und unlogisch, und hat deswegen bereits im Vornherein für Konflikte gesorgt. Der Clou ist, dass die Nein-Stimmen gewichtiger sind, als die Ja-Stimmen. Das heißt, dass Präsident und Gouverneure aus dem Amt scheiden, wenn sie so viel Prozent an Nein-Stimmen bekommen, wie sie 2005 positive Stimmen hatten.

Im Klartext: Der Präsident und sein Vize-Präsident erhielten mit ihrer Partei MAS im Jahre 2005 knapp 54%. Sie geben ihr Amt nun also nur auf, wenn über 54% gegen sie, also mit NEIN, stimmen.

Hingegen braucht es bei den Gouverneuren viel weniger Nein-Stimmen als beim Präsidenten, weil keiner von ihnen bei der Wahl 2005 mehr als 50% erreichte. Ein Beispiel: Der Oppositionsgouverneur von La Paz, José Luis Paredes, erhielt 2005, 38% der Stimmen. Wenn am Sonntag 39% gegen ihn, aber 61% für ihn stimmen, muss er sein Amt trotzdem abgeben. Wichtig ist demzufolge nur, ob mehr gegen ihn stimmen, als 2005 für ihn waren.

Sollten die Gouverneure die gewünschten Ergebnisse nicht erreichen und ihr Amt aufgeben müssen, würde der Präsident die neuen Gouverneure persönlich designieren. Bisher tat dies die Bevölkerung an den Urnen. Regierungstreue prefectos würden auch automatisch die Autonomiebestrebungen von sechs der neun Bolivianischen Regionen stoppen. Der Wunsch dieser Landesteile nach mehr Unabhängigkeit ist Morales schon seit längerem ein Dorn im Auge.

Die Beobachter der Organisation für Amerikanische Staaten (OAS) und des Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), die extra für das Referendum angereist sind, haben die Regelung scharf kritisiert. Auch am Tag der Volksabstimmung haben sich Opposition, Regierung und das Wahlgericht nach wie vor nicht auf die Regeln geeinigt. Die Probleme nach der Wahl sind folglich bereits vorprogrammiert.

Eine Woche voller Proteste und Unruhen

Schon die Woche vor dem Referendum brachte die latenten Probleme Boliviens zum Vorschein. Die letzten Tage waren von Unruhen und Protesten geprägt. Überraschend waren vor allem die Widerstreite derer, die die Basis der Regierungspartei MAS bilden. Lehrer, Bauern, Bergarbeiter und Menschen mit Behinderungen blockierten Straßen und organisierten Protestmärsche. Ihr Anliegen: Präsident Morales an seine, nicht eingehaltenen, Wahlversprechen zu erinnern. Bei der Auseinandersetzung zwischen 4000 Minenarbeitern, die eine Reform des Rentensystems verlangten, und der Polizei, starben zwei Demonstranten. Vierzig wurden verletzt. Am meisten schockierte die Öffentlichkeit jedoch, als die Polizei einen Protestmarsch von Menschen mit Behinderung mit Gewalt auflöste. Seit Morales Amtsantritt 2006 hat es bereits bei Protesten mehrere Dutzend Tote gegeben. Regierung und Opposition schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Unerwünschter Ehrengast

Die Stimmung im Land kocht. So konnte der Präsident nicht, wie es Tradition ist, am 6. August, dem Bolivianischen Unabhängigkeitstag, seinen Bericht an die Nation aus der Hauptstadt Sucre halten. Dort gilt er als persona non grata. Er ist nicht willkommen. Die Einwohner verlangen eine Entschuldigung von ihm wegen der Toten bei den Unruhen im November 2007. Damals protestierten die Bewohner Sucres, als die Mehrheit der Regierungspartei in der verfassungsgebenden Versammlung sich gegen eine Diskussion über die Zusammenlegung von Hauptstadt und Regierungssitz aussprach. Aktuell ist La Paz Regierungssitz, während  Sucre die Hauptstadt ist. Bei den Protesten starben drei Menschen, um die 300 wurden verletzt. Die erst vor kurzem neu gewählte Gouverneurin Chuquisacas, Savina Cuéllar, warnte den Präsidenten, sie könne bei den Feiern nicht für seine Sicherheit garantieren. Zuerst wolle das Volk eine Entschuldigung hören.

Stattdessen versuchte Evo Morales nach Tarija, im Süden Boliviens, auszuweichen. Dort stand auch ein Energiegipfel mit Venezuelas Präsident Chávez und Argentiniens Präsidentin Fernández de Kirchner auf der Agenda. Doch auch hier erwarteten ihn Proteste. Der Flughafen wurde blockiert, so dass die Regierungschefs Argentiniens und Venezuelas ihren Besuch aus Sicherheitsgründen absagen mussten. Beide drückten jedoch ihre Unterstützung für Boliviens Präsident aus. Am Ende blieb Evo Morales in La Paz. Seine Rede an die Nation war knapp. Die zwei toten Bergarbeiter vom Tag davor erwähnte er nicht.

Keine Lösung in Sicht

Die oppositionellen Gruppen der Regionen Santa Cruz, Tarija, Beni, Pando, Cochabamba und Chuquisaca erklärten in einem Manifest, dass das Referendum die Krise Boliviens nicht bremsen könne. Viel dringender sei es, andere Probleme zu lösen. Zum Beispiel die Inflation, die Emigration von Bürgern ins Ausland, sowie den Mangel an Erdgas, um die Märkte der benachbarten Länder zu versorgen.

Unabhängig davon, wie die Ergebnisse des Volksentscheides am heutigen Sonntag ausgehen, ist bereits absehbar, dass alle Beteiligten die Resultate hinterfragen und nicht akzeptieren werden. So wird das Tauziehen um die Macht zwischen Regierung, den Autonomie fordernden Regionen und etlichen anderen Interessensgruppen weiter gehen.

Sollte es doch zu einer Amtsenthebung Morales’ kommen, sieht das Gesetz Neuwahlen innerhalb von 90 bis 180 Tagen vor. Dafür sind die politischen Parteien, allen voran die Opposition, nicht gewappnet. Im Schlimmsten Falle drohen Bolivien ein Machtvakuum und Chaos. Da hilft nur eines, wie Brasiliens Präsident Lula da Silva schon erkannte: „Mit Bolivien muss man geduldig sein“.

von Gabriela Keseberg Dávalos, Bolivien 

heute.de (ZDF), 10.8.2008

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